Polyvagal-Theorie

Die Polyvagaltheorie hat Dr. Stephen Porges (Professor für Psychiatrie und Biomedizintechnik) nach dem Vagusnerv benannt, dem zehnten und größten Hirnnerv des Parasympatischen Nervensystems und seinen sehr verschieden wirkenden beiden Haupt-Verzweigungen. Beide entspringen dem Stammhirn („Reptilienhirn“), der Dorsale (=hintere) Vagusnerv und Ventrale (=vordere) Vagusnerv. Sie sind Teil des Autonomen Nervensystems, welches ganz elementar unser Überleben regelt.

Er erforscht seit ca. 40 Jahren den Zusammenhang zwischen unserer Physiologie und dem eigenen Erleben, Empfinden und Verhalten. Wie reagiert unser Nervensystem auf Anzeichen der Sicherheit oder Unsicherheit? Und wie verändert sich dadurch körperliche Funktionen? Besonders von Bedeutung ist dabei der evolutionär neueste Teil, und bisher wenig erforschte, Ventrale (= vordere) Zweig des Vagusnerves.

Unsere Nervensystem ist ständig auf Empfang. Ohne dass wir es bewusst wahrnehmen, scannt es ununterbrochen unsere unmittelbare Umgebung nach Signalen für Sicherheit und Gefahr ab. Dr. Porges hat dafür den Begriff der „Neurozeption“ geprägt. Aufgrund dieser Einschätzung legt unser autonomes Nervensystem unser weiteres Verhalten fest.

Er beschreibt Drei Neuronale Kreisläufe, die unser Verhalten regulieren, unser Überleben sichern. Sie werden hierarchisch geregelt, d.h. im besten Falle ist das neueste, aktuellste System aktiv und reguliert, nur wenn das nicht mehr funktioniert, durch Überforderung übernimmt das nächst-ältere System die Kontrolle. Je nachdem welcher Bereich (vorrangig) aktiv ist, nehmen wir anderes wahr, verhalten wir uns anders, fühlen uns anders.

Kurz:

  • Parasympatikus (Dorsaler Vagus) – Energie einsparen, Erstarren
  • Sympatikus – Kampf oder Flucht, Mobilisierung
  • Parasympatikus (Ventraler Vagus) – Kommunikation und Verbindung (mit sich selbst, Mitmenschen, der Welt/Spiritualität)

1) Ventraler Vagus – System für Soziale Verbundenheit und Kommunikation – („Social Engagement System“):

Dies ist das evolutionär neueste System beim Menschen für Verhaltensweisen sozialer Zugewandtheit; besonders durch den Ventralen Vagusnerv gesteuert, und auch durch weitere Gesichtsnerven für z.B. Muskulatur für Mittelohr und Rachen. Es ermöglicht uns Säugetieren Gefühle von Vertrauen, Sicherheit und Liebe zu erleben und fördert das Sozialverhalten, welches uns das Überleben sichert:

Kooperation, Kommunikation & Bindung, Beziehungen, Liebe, Kreativität, Spiel, Geselligkeit , Neugierde & Selbstberuhigung.

Dieser Zustand ermöglicht Gesundheit, Wachstum, Erholung. Er ermöglicht uns Säugetieren Gefühle von Vertrauen, Sicherheit und Liebe zu erleben und fördert das Sozialverhalten, welches uns das Überleben sichert.

Die Nervenbahnen sind gut myelinisiert, reagieren schnell und fein auf innere sowie äußere Stimuli, sind synchron und reziprok (reagieren in beide Richtungen).

Die Fähigkeit zu ruhen, zu schlafen und zu verdauen sind optimal. Gehirnfunktionen und Herzschlag-Feinjustierung sind effektiv.

Die eigene Mimik (besonders im oberen Gesichtsfeld) ist lebhafter, der Kopf beweglich und das Erkennen und Zuordnen von Gesichtsausdrücken unseres Gegenübers gelingt gut.

Die eigene Stimme klingt melodisch und schwingt auf angenehmen beruhigenden Höhe. Das Gehör ist fein eingestellt, z.B. es ist leichter, die Frequenz der menschlichen Stimme aus anderen Geräuschen herausfiltern. Der Trommelfellspanner- und Steigbügelmuskel im Mittelohr regeln das Hören unterschiedlicher Frequenzen und Lautstärken, und bewirken im Zustand des Ventralen Vagus besonders eine Einstimmung auf den Frequenzbereich der menschlichen Stimme.

Das Pendeln zwischen Momenten von Entspannung und Anspannung ist schnell und leicht möglich.

Die Funktionen der folgenden beiden folgenden Zustände sind auch hier möglich und funktionieren wunderbar: Mobilisierung wie in z.B. beim Spiel und Sport sowie Immobilisierung in z.B. Intimen Momenten, Meditation.

2) Sympatikus – System für Kampf oder Flucht:

Ist die Gefahr, ob real oder vermutet, zu groß – äußere und auch innere, ist der Sympatikus aktiv. Dies System ermöglicht Überleben durch Mobilisierung: schnelle Reaktion in Kampf oder Flucht, Kräfte einsetzen und durchhalten. Dieses System hat sich in der Entwicklung von Säugetieren entwickelt – ohne diese Funktionen hatten sie geringe Lebenschancen.

  • Zum Fluchtgedanken gehören Angst, Sorge, Furcht und Panik.
  • Angst macht wachsam, reaktionsbereit, warnt
  • Zum Kampf gehören Irritation, Frustration, Ärger und Wut sowie auch Unterwerfung oder extreme Anpassung/ Distanzierung von eigenen Bedürfnissen.
  • Ohne Furcht mit-aktiv in Sport und Spiel, Flow-Zuständen
  • Angst ohne reale, aktuelle Auslöser bremst und macht handlungsunfähig

Die Durchblutung der inneren Organe und der Muskeln sowie der Stoffwechsel sind erhöht als Unterstützung für eine mögliche Kampf-Flucht-Reaktion.

Sinneswahrnehmungen sind geschärft und achten vermehrt darauf, was als nächstes passieren könnte.

Das Gehör nimmt verstärkt schrille Geräusche und tiefe Frequenzen von Gefahr wahr (Kreischen, Schreie, Knurren, Donnergrummeln), ist geradezu hellhörig für diese Frequenzen, Mimik versteift sich, Regeneration wird vertagt, Verdauung ist herabgesetzt.

3) Dorsaler Vagus – System für Immobilität:

Der Dorsale Vagusnerv des Parasympatischen Nervensystems ist aktiv. Das ist der evolutionär älteste Teil des Nervensystems (Nervteil noch ohne schützende und reizbeschleunigende Myelinschicht, seit Reptilienzeiten entwickelt). Wenn die Möglichkeiten zu Flucht oder Kampf überstiegen werden oder als aussichtslos gelten, geraten wir in eine Art Starre.

  • Mit Furcht: Immobilisation, Erstarren, Dissoziation, Taubheit, Resignation, Totstellen/Ohnmacht
  • Ohne Furcht: Verdauung, Geburt, Sexualität, Stillen, Tiefenentspannung

Bewegungsfähigkeit und Schmerzempfinden sind herabgesetzt.

Navigieren…

Es ist hilfreich zu erkennen, in welchem dieser verschiedenen neuronalen Zustände ich mich momentan befinde (oder auch ein Mitmensch). Dann kann ich lernen, innerhalb der verschiedenen Zustands- und Funktions-Systeme zu navigieren, zu regulieren, zu entdecken und zu erforschen was mich von einem Zustand in den Nächsten bringt oder was mich davon abhält.

Ängste als Reaktionen auf (meist hier und jetzt nicht mehr reale) Gefahren im Innen und Außen können sich ähnlich einer Endlosschleife, die seit unserer Kindheit oder einem einschneidenden Erlebnis läuft, wiederholen.

Eine Art Teufelskreis: Die körperliche Fähigkeit, Sicherheit wahrzunehmen ist herabgesetzt. Das System konzentriert sich auf Wahrnehmung von Warnsignalen und die Reaktion darauf – Mobilisierung oder Energie einsparen. Unser Gegenüber kann leicht unsere Körpersignale als gefährlich statt als ängstlich fehlinterpretieren (war auch mal ne gute Taktik gefährlich auszusehen). Noch mehr Gefahr im Raum.

Wie bekommen wir mehr Signale von Sicherheit in unser System? Die Anwesenheit anderer uns wohlgesonnener Menschen, die sich selbst bereits gut regulieren können, ist dabei essenziell. Deren feine Gesichtsmuskulatur zu beobachten, die melodische Stimme zu hören, bemerken dass man gesehen wird. Die Funktionen des Ventralen Vagus zu verbessern und zu verfeinern, kann helfen, mehr Zeichen von Sicherheit zu entdecken. (siehe dazu auch „SSP“und Literatur- und Videoempfehlung)

Die wichtigste Konsequenz aus dieser Erkenntnis ist: Je besser der Ventrale Vagusnerv ausgebildet ist, desto besser funktioniert das Autonome Nervensystem des Menschen – und glücklicher, entspannter und gesünder sind wir.

„Der Vagus ist für jeden Aspekt unseres Lebens von zentraler Bedeutung. Er kann für Tiefenentspannung sorgen, ebenso wie für unmittelbare Reaktion auf Situationen, in denen es um Leben und Tod geht. Er kann sowohl Ursache zahlreicher Erkrankungen sein als auch ihre Lösung. Darüber hinaus kann der Vagus für die notwendige tiefe persönliche Verbundenheit mit anderen Menschen und mit unserer Umgebung sorgen.“

(Stanley Rosenberg)

hier meine Literatur- und Videoempfehlung